Abschlussbericht "Makroökonomische Folgen des ­Mindestlohns aus keynesianisch geprägter Perspektive"

Forschungsprojekt

Makroökonomische Folgen des gesetzlichen Mindestlohns aus keynesianisch geprägter Perspektive
Studie im Auftrag der Mindestlohnkommission
Projektvergabe durch die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), Vergabe-Nr. 526652
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Die Expertise diente der Herausarbeitung der zentralen theoretischen Annahmen keynesianisch geprägter Theorieansätze und der daraus resultierenden möglichen Folgen eines Mindestlohns auf die Gesamtwirtschaft. Dabei ging es sowohl um kurzfristige Effekte, wie z. B. Konjunkturimpulse, als auch um mittel- bis langfristige Effekte, wie etwa Wachstumseffekte. Die Expertise umfasste auch eine quantitative Abschätzung möglicher makroökonomischer Folgen des gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland.

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Executive Summary

In der vorliegenden Studie werden die Einführung und die Wirkungen des Mindestlohns in Deutschland auf die Gesamtwirtschaft aus einer keynesianischen Perspektive analysiert. Die Studie präsentiert eine makroökonomische Untersuchung, die die wichtigsten Wirkungsmechanismen des Mindestlohns berücksichtigt, wobei sieben keynesianische Grundprinzipien als besonders relevant identifiziert wurden. Zentrale Bedeutung hat dabei die Doppelfunktion der Löhne, nicht nur als Kostenfaktor für Unternehmen sondern auch als Einkommens- und damit Nachfragequelle für ArbeitnehmerInnenhaushalte.
Bezugnehmend auf verschiedene Autoren, die im weitesten Sinne in der keynesianischen Tradition stehen, werden plausible Reaktionsmuster der Wirtschaftsakteure, insbesondere der Unternehmen, auf eine Mindestlohneinführung beziehungsweise -erhöhung erarbeitet (Mikrofundierung). Je nach Marktform sind in der partialanalytischen Sicht Veränderungen bei den Produktpreisen und der Arbeitsproduktivität zu erwarten, die als Anpassung der Unternehmen zu interpretieren sind. Eine Kompression der Gewinnmargen ist denkbar, wenn diese Anpassungsversuche die gestiegenen Lohnkosten nicht vollständig kompensieren. Auf der einzelwirtschaftlichen Ebene können diese arbeitgeberseitigen Strategien zudem mit Arbeitsplatzverlusten einhergehen.
Auf der makroökonomischen Ebene ist in keynesianischer Perspektive allerdings die Entwicklung der aggregierten Nachfrage von maßgeblicher Bedeutung für Wirtschaftswachstum und Beschäftigung. Hier sind vielfältige Kreislaufeffekte zu berücksichtigen. Besonders wichtig ist aus keynesianischer Perspektive die mit dem Mindestlohn verbundene Erhöhung der Einkommen von Haushalten in der unteren Hälfte der Einkommensverteilung, die eine überdurchschnittliche Konsumquote aufweisen. Aus keynesianischer Sicht hat zudem die Stärkung des nominalen Lohnankers – wenn auch indirekt – ebenfalls eine hohe Bedeutung. Neben den aggregierten Effekten vor allem beim Konsum kommt es auch zu strukturellen Verschiebungen der relativen Preise. Diese haben Veränderungen in der Zusammensetzung von Nachfrage, Produktion und Beschäftigung zur Folge, die damit aber nicht zwangsläufig nennenswerte Auswirkungen auf das gesamtwirtschaftliche Beschäftigungsniveau haben.
Bei einer detaillierten deskriptiven Analyse der besonders vom Mindestlohn betroffenen Branchen zeigen sich weit überdurchschnittliche Lohnsteigerungen in den betroffenen Branchen, aber auch eine sehr gute Gewinn- und Kapitaleinkommensentwicklung ohne nennenswerte negative Beschäftigungseffekte. Eine solche Analyse erlaubt aber keine Antwort auf die Frage, was ohne Mindestlohn passiert wäre.
Eine nur auf die kurze Frist angelegte VAR-Analyse identifiziert für 2015 einen signifikanten positiven Lohneffekt, positive (aber nicht signifikante) gesamtwirtschaftliche Preiseffekte und einen deutlich positiven aber nicht signifikanten Effekt auf die Beschäftigung.
Die Erfassung von Kreislauf- und längerfristigen Effekten erfordert den Einsatz eines makroökonometrischen Modells. Einige wichtige Inputs für die Modellierung mussten in Form von empirischen Untersuchungen gewonnen werden. Dies betrifft nicht zuletzt die Frage, inwieweit die Tarifparteien den Kompressionseffekt des Mindestlohnes teilweise durch einen Spillover-Effekt – überdurchschnittliche Lohnerhöhungen in Entgeltgruppen etwas oberhalb des Mindestlohns – zu kompensieren versuchen. Es gibt theoretisch sowohl arbeitgeber- als auch arbeitnehmerseitig gute Argumente und empirische Evidenz aus der internationalen Mindestlohnforschung, die eindeutig für Spillover-Effekte sprechen. Der Spillover-Effekt erhöht die positive Wirkung des Mindestlohns auf die Bruttolohn- und -gehaltssumme (BLG). Tatsächlich haben die Tarifpartner in Deutschland auf die Mindestlohneinführung reagiert: Nach unseren Schätzungen kam es zu einer Verdoppelung des direkten Effekts auf die BLG.
Auch hat der Mindestlohn schon kurzfristig zu einer deutlichen Verschiebung weg von den Minijobs hin zu der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung geführt, ohne nennenswerte Folgen beim Arbeitsvolumen in Stunden. Letztlich ist dies eine teilweise Korrektur einer früheren Fehlentwicklung, bei der in der Vergangenheit in einigen Bereichen sozialversicherungspflichtige Jobs aufgespalten und in Minijobs umgewandelt wurden. Diese Korrektur ist für sich betrachtet mit einem Verlust an Minijobs und damit auch an Beschäftigten – gemessen in Köpfen – verbunden.
Simulationen mit dem keynesianisch geprägten IMK Makro-Modell zeigen folgende wichtige Ergebnisse.
Das Wirtschaftswachstum wird durch die Einführung des Mindestlohns vor allem über die Steigerung des privaten Konsums angeregt. Diese Konsumsteigerung wird durch höhere Löhne der Mindestlohnbegünstigten und einen Spillover-Effekt für Beschäftigte oberhalb des Mindestlohns verursacht. Dieser Effekt fällt deswegen besonders stark aus, weil vor allem Personen profitieren, die mit einer vergleichsweise geringen Sparquote für eine Steigerung des realen privaten Verbrauchs sorgen. Die Beschäftigung insgesamt steigt an.
Es kommt dabei zwar zu Preissteigerungen, die allerdings im gesamtwirtschaftlichen Maßstab vernachlässigbar gering sind. Höhere (Mindest-)Löhne und geringe Preissteigerungen lösen einen Prozess aus, der nach einiger Zeit auch die Löhne aller Beschäftigten in den normalen Lohnrunden leicht anhebt. Die leichten gesamtwirtschaftlichen Preiseffekte in Folge der Mindestlohneinführung leisten in der konkreten Situation des Jahres 2015 einen Beitrag gegen deflationäre Tendenzen und verhindern so zumindest eine noch größere Verfehlung der Zielinflationsrate der EZB.
Neben den Mindestlohnbegünstigten ist auch der Staat ein Gewinner, weil seine Einnahmen stärker als seine Ausgaben steigen. Verausgabt er diese Mehreinnahmen defizitneutral – was theoretisch plausibel ist und wofür die tatsächliche Entwicklung 2015 und 2016 spricht – dann regt er das Wirtschaftswachstum zusätzlich an und die Beschäftigung steigt nicht nur in Stunden, sondern auch in Köpfen gemessen.
Im Hinblick auf eine gesamtwirtschaftliche Lohnentwicklung, welche die aus keynesianischer Sicht wichtigen Vorgaben einer makroökonomisch orientierten Lohnpolitik erfüllen, ist der Mindestlohn eine notwendige Ergänzung zum kollektiven Lohnfindungssystem durch Flächentarifverträge in Deutschland. Ohne den Mindestlohn würden Personen, die in nichttarifgebundenen Unternehmen zu sehr niedrigen Löhnen arbeiten, weiterhin von der Verteilung des wachsenden gesellschaftlichen Wohlstands abgeschnitten bleiben. Der Mindestlohn sichert ihnen eine Teilhabe am Wirtschaftswachstum.
Insgesamt zeigt die modellgestützte empirische Mindestlohnanalyse aus keynesianischer Perspektive, dass die makroökonomischen Effekte der Einführung des Mindestlohns in Deutschland positiv zu bewerten sind.

Projektlaufzeit

01.03.2017 - 01.12.2017

Projektleitung

Kooperationspartner

  • IMK (Federführend)
  • WSI
  • HWR
  • TUB

Homepage

https://www.mindestlohn-kommission.de/DE/Forschung/Projekte/pdf/Bericht-Mindestlohn-keynesianische-Perspektive.html?nn=8711200