Kapitel 1 | Rathenaustraße: Oberschöneweide und die AEG

Rathenaustraße / Ecke Wilhelminenhofstraße, auf dem kleinen Vorplatz

(Geräusch: einfahrende Straßenbahn, Gebimmel, alte Autohupen, Dampfkessel)

Oberschöneweide - vor etwas mehr als hundert Jahren war dieser abseits gelegene Ortsteil eines der Gründungszentren der Berliner Industrie. Hier an der Rathenaustraße stiegen täglich Tausende von Arbeitern aus den Straßenbahnen, strömten in die dicht gedrängten, mit gelbem Klinker versehenen Fabrikanlagen entlang der Wilhelminenhofstraße und fertigten Kabel, montierten Autos oder entwarfen Sendeanlagen. Sie waren es, die den Ruf der Stadt als Elektropolis entscheidend mitprägten. Heute hingegen steigen vor allem auffallend junge Leute aus den Trams. Die meisten von ihnen gehen auf das gelbe Backsteingelände gegenüber, durch die Pforte links neben Tor 4. Die HTW die Hochschule für Technik und Wirtschaft, hat hier 2009 den Campus Wilhelminenhof eröffnet.

Damit führt die Hochschule ein historisches Erbe fort. Der Campus befindet sich auf einem der bedeutendsten Industrieareale Berlins, dem ehemaligen Kabelwerk Oberspree. Dessen Geschichte, der wir uns auf unserem Rundgang widmen wollen, lässt sich dabei grob in drei Abschnitte gliedern. Es ist zunächst die Geschichte der AEG, der Allgemeinen Elektricitäts Gesellschaft – ein junges Unternehmen der Elektroindustrie, das Ende des 19. Jahrhunderts das Gelände übernimmt und binnen weniger Jahrzehnte die Elektrifizierung der Gesellschaft entscheidend vorantreibt. Das wiederaufgebaute Berlin der Nachkriegszeit ist Schauplatz des zweiten Abschnittes. Der Volkseigene Betrieb Kabelwerk Oberspree, kurz VEB KWO, wird zu einem der bedeutendsten Kombinate der DDR - bis mit der Wende von 1989 das wirtschaftliche Aus kommt; und damit der Bedeutungsverlust von Oberschöneweide. Rund 4/5 der Beschäftigten verlieren in den Folgejahren ihre Arbeit, die Einwohnerzahl sinkt, die ungenutzten Fabrikanlagen beginnen zu verwahrlosen.

Letztlich vermittelt unser Rundgang aber auch die Geschichte der HTW– der Sanierungs- und Umbauarbeiten, die es ermöglichten, ein Industrieareal als modernen Hochschulcampus zu nutzen – und damit einen vergessen geglaubten Ortsteil neu zu beleben. AEG, KWO, HTW – Der bewegten Geschichte des Geländes wollen wir uns nun, begleitet von Experten, Zeitzeugen, Architekten und Studierenden, widmen. Setzen wir uns einen Moment – auf eine der Bänke hier auf dem Platz.

(kurze Schritte)

Beginnen wir mit dem Namen des Ortes – Schöneweide. Er geht auf eine Reisebeschreibung des brandenburgischen Kurfürsten Joachim II zurück und war lange Zeit exemplarisch: Noch bis zur Hälfte des 19. Jahrhunderts war Oberschöneweide, der Ortsteil am rechten Spreeufer, gesäumt von sumpfigen, kaum bebauten Wiesenflächen – eine "schöne Weide" eben. Das machte die Ortschaft nicht nur zum beliebten Ausflugsziel, es weckte auch das Interesse der Berliner Industrie. Da sah es gegen Ende des 19. Jahrhunderts nämlich weit weniger idyllisch aus.

(Musik)

Die industrielle Revolution hatte die Hauptstadt bereits in den 1830er Jahren erfasst. Hunderttausende Menschen waren in den Folgejahren in die pulsierende Metropole geströmt und hatten einen gewaltigen Bauboom ausgelöst. Der stetig steigende Wohnraumbedarf und die rasant wachsende Industrie waren schnell in Konflikt geraten: Freies Gelände war rar geworden, die Grundstückspreise unbezahlbar. Die Industrie musste sich nach Alternativen umsehen und fand diese weit außerhalb des Stadtzentrums. Was folgte, war die Randwanderung – der Zug in die Vororte. Dazu hören wir jetzt den ehemaligen Projektmanager der Berliner Landesentwicklungsgesellschaft Dr. Alexander Header. Er hat seine Dissertation zum Thema Stadtentwicklung und Industrialisierung Berlins verfasst und dabei Oberschöneweide detailliert untersucht.

(O-Ton Haeder)

    "Die Randwanderung betrifft im Grunde alle Unternehmen, aber sie betrifft besonders die Unternehmen, die einen erheblichen Platzbedarf haben und dazu gehören im 2. Drittel des 19. Jahrhunderts vor allem die Maschinenbauindustrie und ein paar Jahrzehnte später auch die Elektroindustrie. Zu diesem Zeitpunkt beginnt die Stadt ihr organisches Wachstum zu regulieren durch eine Stadtplanung. Das ist das, was später als Hobrechtsplan bekannt wird. (...) Und vor diesem Hintergrund gehen die Unternehmen auf die Suche nach Plätzen, die etwas weiter außerhalb liegen. Aber sie müssen eine Reihe von Kriterien erfüllen: Der Fluss spielt eine große Rolle als Transportweg für Massengüter. (...) Es muss weiterhin eine Bahnverbindung da sein, denn die äußeren Industriestandorte, die dann in Betracht gezogen werden, müssen erreichbar sein (...) Und darüber hinaus muss Energie und anderes verfügbar sein. Das heißt, die Infrastruktur muss stimmen. Und diese 3 wesentlichen Kriterien – neben dem vierten, dass Grund und Boden verfügbar ist, finden Sie bei allen großen Industrieansiedlungen, die in der Folgezeit erschlossen werden. Das sind Siemens im Westen der Stadt, die Borsig-Stadt bei Tegel, bei Wildau Schwarzkopf (...) und es ist Oberschöneweide, die die Elektrostadt der AEG wird."

Die AEG war damals eine recht junge Firma, mit Sitz im Norden Berlins. Das Unternehmen von Firmengründer Emil Rathenau war 1887 aus der „Deutschen Edison Gesellschaft“ hervorgegangen. Zunächst produzierte man Glühlampen und elektronische Geräte, wuchs dann aber rasch zu einem führenden Unternehmen der Kraftwerkstechnik heran und musste expandieren. Es folgten eine Apparatefabrik im Wedding, eine Maschinenfabrik am Humboldthain und 1895 schließlich die Werksanlagen entlang der Wilhelminenhofstraße.

Zunächst entstand hier die Kraftzentrale Oberspree, das erste Drehstromkraftwerk Deutschlands. Mit diesem von der AEG entwickelten System ließ sich Strom auch über weite Distanzen transportieren. Um wirklich wirtschaftlich zu sein, mangelte es jedoch an Abnehmern in den Tagesstunden. Und so entstand auch das geplante neue Kabelwerk der Firma in Oberschöneweide, gleich neben dem Kraftwerk. Die Kabelmaschinen wurden vom Kraftwerk mit Strom versorgt, das Unternehmern sozusagen zu seinem eigenen Stromabnehmer. 1897 nahm das Kabelwerk Oberspree auf dem Gelände vor uns den Betrieb auf, allerdings in deutlich kleinerem Umfang. Es bestand zunächst aus einem Hallenkomplex, einem Geschossbau, einem Kantinen- und einem Verwaltungsgebäude. Das Verwaltungsgebäude steht uns direkt gegenüber, rechts neben Tor 4, unmittelbar an der Wilhelminenhofstraße – das einzeln stehende Backsteinhaus mit der verzierten Fassade und dem spitz zulaufenden Dachaufbau. Der Geschossbau befindet sich rechts daneben - das imposante Gebäude mit den kleinen Ecktürmchen auf dem Dach. Hinter dem Gebäude können Sie auch 3 der einstmals 6 Schornsteine des erwähnten Drehstromkraftwerks erkennen. Wie Sie sehen können, wurden alle Gebäude mit gelbem Ziegelstein verblendet, dem sogenannten "Oberschöneweider Klinker". Das Material war nicht nur hell und reflektierte das Licht, seine durchgehende Verwendung vermittelte auch eine übergreifende Firmenidentität.

Aber zurück zum Ortsteil. Der rasche Erfolg der AEG hinterließ auch in der Gemeinde Oberschöneweide Spuren. Die Firma sicherte sich die uneingeschränkte Entfaltung ihrer Anlagen, war im Gegenzug aber auch bereit, die städtische Entwicklung zu unterstützen. Sie beteiligte sich am Wohnungsbau und organisierte den Ausbau von Nahverkehr und Infrastruktur; veranlasste zum Beispiel den Bau einer Fußgängerbrücke über die Spree, der sogenannte Kaisersteg. Auch die Straßenbahn stammt aus dieser Zeit. Parallel zu ihr verliefen die Gleise des sogenannten "Bullen" - die Industriebahn, die Rohstoffe zu den Fabriken brachte und die Endprodukte abtransportierte. Und so wuchs die Einwohnerzahl Oberschöneweides von 159 im Jahre 1890 auf 5850 im Jahr 1900. Der verschlafene Vorort hatte sich binnen eines Jahrzehnts zu einem bedeutenden Industriestandort entwickelt. Die 25 Groß- und vielen Kleinbetriebe, die sich hier angesiedelt hatten, beschäftigten bald mehr als 18.000 Arbeiter. Das Kabelwerk Oberspree nahm dabei eine Schlüsselrolle ein. Lassen Sie uns unseren Rundgang über das ehemalige Firmengelände nun beginnen – an der Pforte links neben Tor 4, der Wilhelminenhofstraße 75 A.