Kapitel 8 | Gebäude F: Neubau und historisches Erbe

Am Ufer stehen

Widmen wir uns zum Abschluss dem einzigen Neubaukomplex auf dem Campus: Gebäude F, das sandfarbene Haus mit der eleganten Glas-Beton-Attika, und das dahintergelegenen Gebäude E, das wir von hier nicht sehen können. Obwohl es sich um Neubauten handelt, sind auch sie nicht frei von Historie - ganz im Gegenteil. Gebäude F ersetzt das für den Denkmalschutz wohl interessanteste Bauwerk des KWO — die Fernmeldefabrik von Architekt Ernst Ziesel und Bauingenieur Gerhard Mensch aus dem Jahr 1927/28, der sogenannte Zieselbau. Sein Abriss stellt den umstrittensten Aspekt des Campus-Umbaus dar. Da die Fernmeldefabrik nicht mehr da ist, versuchen wir uns das Gebäude vorzustellen. Denken Sie an einen viergeschossigen backsteinverkleideten Bau mit großen querliegenden Fenstern und wuchtigen Treppentürmen zu beiden Seiten. Wir gehen derweil vor zu Gebäude F, rechts an der Spreehalle entlang.

(Schritte)

Bis vor den Neubau gehen

Die Fernmeldefabrik gilt als eine der ersten Stockwerksfabriken mit Stahlskelett in Deutschland. Bei dieser Konstruktionsweise besteht das Tragewerk aus Stahlträgern, die leicht an- und abgeschraubt werden können. Aufzüge und Treppenhäuser waren abermals in Turmbauten ausgelagert. Unter gestalterischen Gesichtspunkten wandte sich Ziesel dabei noch deutlicher vom vorherrschenden Historismus ab: Er verzichtete völlig auf Ornamente wie Pfeiler oder gar Fialen. An ihre Stelle trat — getreu dem Credo form follows function — die Tragekonstruktion selbst: So waren die senkrecht verlaufenden Stahlstützen der Fernmeldefabrik von außen sichtbar, setzten sich sogar deutlich vom gelben Backstein ab. Lassen Sie uns weiter gehen, über die Straße, bis zu den Fahrradständern. Aber Vorsicht wegen der Autos. Ziesels radikaler Funktionalismus stand deutlich im Zeichen des Neuen Bauens - eine Bewegung, die sich ganz der Sachlichkeit und Ökonomie verschrieben hatte und die die ideelle Grundlage der Bauhaus-Schule bildete.

(Schritte)

In der Nähe der Kreuzung Zieselstraße / Kraatzstraße stehen

Widmen wir uns einen Moment dem Abriss dieses bedeutenden Industriedenkmals. Der Zieselbau, seit 1977 unter Denkmalschutz stehend, war seit 1990 ungenutzt geblieben und zusehends verfallen. Eine Nutzung als HTW-Gebäude war vorgesehen. Im Rahmen des Campusumbaus erstellte Baugutachten lieferten jedoch ein ernüchterndes Ergebnis: Das Gebäude verfügte nicht nur über konstruktive Mängel, es war auch schwer mit chemischen Rückständen kontaminiert. Erhaltung und Sanierung hätten den für den Campusumbau vorgesehenen finanziellen Rahmen überschritten. Und so wurde das Gebäude 2007 trotz vehementer Proteste einer eigens gegründeten Studenteninitiative, trotz internationaler Diskussionen und wiederholter Appelle an den Senat abgerissen. Der Abriss förderte indes einen historischen Bauskandal zutage: Die ausführende Baufirma hatte, ohne Wissen Ziesels, deutlich kürzere Pfähle verwendet, als in den Bauplänen vorgegeben. Die Nutzung des Gebäudes wäre nur als Denkmal möglich gewesen — als mit Silberfolie verkleidete Halle, ohne Funktion. Der Abdruck des alten Zieselbaus wurde im Boden verewigt. Schauen Sie mal — die gelben Pflastersteine markieren die Umrisse der einstigen Fernmeldefabrik.

Wie Sie sehen können, errichtete Nalbach seinen Neubau leicht versetzt. Die Idee war, die Sicht auf die Spree freizugeben. Schauen wir uns den Aufbau des Neubaus einmal genauer an. Er ist deutlich gegliedert in Pfeiler und Horizontalbalken — in Elemente des "Tragens" und des "Getragenwerdens".  Wie schon bei Ziesel präsentiert sich die Tragekonstruktion damit als vordergründig, sachlich und frei von ornamentalem Schmuck. Auch die Proportionen des Gebäudes — also seine horizontale Gliederung und die liegenden, klein gerasterten Fensterbänder — erinnern an Ziesels Bauwerk. Dennoch, mit Gebäude F schuf Architekt Nalbach einen modernen und innovativen Neubau.

Schauen Sie mal nach oben. Das Dach schließt scharfkantig und nicht, wie sonst üblich, mit einer Dachrinne aus Blech ab. Die Entwässerung des letzten Betonelementes wurde nach innen, zum Dach hin, verlegt. Gleiches gilt für die horizontalen Elemente. Auch hier wurde auf Fensterbleche verzichtet und statt dessen nach innen entwässert. Das Wasser wird in eine Leitung abgeleitet und hinter den Pfeilern entlanggeführt. Schauen Sie mal, am Fuße jedes Pfeilers befindet sich ein kleines Loch — da fließt das Wasser ab. Auf diese Weise erhält die Fassade keine hässlichen Schmutzspuren, sie kann im Regen stehen und wird dabei sauber gewaschen. Lassen Sie uns jetzt rechts am Gebäude entlang gehen, bis zu seinem Eingang.

(Schritte)

Bis vor den Eingang des Neubaus gehen

Kehren wir nochmal zum alten Zieselbau zurück. Die große Qualität des Gebäudes lag in seiner Flexibilität. Der auf einem starken Eisenfundament ruhende Komplex war sogar für eine Aufstockung nach oben vorgesehen — ein Plan, der später jedoch aus wirtschaftlichen Gründen verworfen wurde. Nalbach griff Ziesels Flexibilität auf und passte sie der Nutzung des Gebäudes an. Am deutlichsten zeigt sich dies in der Aufteilung der Fensterbänder. Schauen Sie mal, an jedem mittelgrauen Profil zwischen den Fenstern lässt sich innen eine Trennwand setzen. Die Raumgröße kann also äußerst flexibel der Nutzung angepasst werden.

(Schritte)

Vor dem Eingang des Neubaus stehen

Wenn wir jetzt durch die Fenster der Eingangstüren schauen, können wir Fotos der alten Fernmeldefabrik sehen — von außen und innen. Wenn Sie genau hinschauen, können Sie auf dem linken Foto auch die senkrecht verlaufenden Stahlträger erkennen, die sich deutlich vom gelben Klinker absetzen. Sollte geöffnet sein, werfen Sie nach dem beep ruhig einen Blick hinein. Besonders schön ist die Schmetterlingstreppe, die mit ihrer außergewöhnlichen Struktur den spontanen Austausch geradezu herausfordert. Wir hören uns nach dem Beep hier vor dem Eingang wieder.

(Beep)

Der Zieselbau gilt nicht nur aufgrund seiner Sachlichkeit und Flexibilität als Paradebeispiel des Neuen Bauens. Schauen wir nochmal auf das linke Foto. Mit seinen horizontal durchlaufenden Fensterbändern und der Eckverglasung erinnert das Gebäude an das Bauhaus in Dessau und das FAGUS-Werk in Alfeld. Die Transparenz dieser Gebäude bestimmt auch den Neubau von Nalbach. Lassen Sie uns jetzt weiterlaufen — nach rechts, um das Gebäude herum.

(Schritte)

Um den Neubau herum bis zum Anfang von Gebäude E gehen

Schauen Sie ruhig durch die Fenster, sie erlauben einen Blick in den Forschungs- und Arbeitsalltag an der HTW. Sie sehen Labore, Maschinen, aber auch Fahrzeuge. In Gebäude F sind die beiden ingenieurwissenschaftlichen Fachbereiche untergebracht. Sie sollten Gebäude F übrigens nicht nur visuell erkunden, sondern auch ertasten, besonders die Pfeiler. Das zumindest rät der Architekt des Gebäudes, Gernot Nalbach.

(O-Ton Gernot Nalbach)

"(…)Wenn man um das Gebäude herumgeht, bitte nicht nur die Augen benutzen, sondern auch die Hände benutzen. Diese wunderbaren Fertigteile, die eine Berliner Fertigteilfirma gemacht hat - diese Betonoberflächen wurden angesäuert, damit sie samtig werden. Wenn man es näher betrachtet, schaut es eigentlich aus, wie in einem Sandspielkasten, wenn die Kinder mit etwas Wasser ihre Burgen bauen – etwas rau. Und Sie müssen das anfassen, dann werden Erinnerungen an ihre Kindheit wach. Und ich finde die Kantenausbildung sehr bemerkenswert – hoch präzise, wunderbar gefügt, gute Materialität, gute Farbigkeit, abgeleitet von dem Behrensgelb."

Bis zum Ende von Gebäude E / Karte gehen

Wir gelangen jetzt zu Gebäude E, dem kleinen Erweiterungsbau von Gebäude F. Wir gehen geradeaus weiter, bis zur Karte — dem Ende unserer Tour. In Gebäude E, dem zweigeschossigen Komplex, der sich optisch klar an Gebäude F orientiert, sind Labore, Werkstätten und Prüfstände der Fachrichtung Bauingenieurwesen untergebracht. Beide Gebäude präsentieren sich als einfach und sachlich. Sie sollen Ruhe und Ordnung in das doch sehr heterogene Areal bringen. Denn gewissermaßen sind dem Campus auch heute noch alle Epochen seiner bewegten Geschichte eingeschrieben — und das nicht nur als Huldigung der Architekten in den Straßennamen.

(Schritte)

Am Ende von Gebäude E / vor der Karte stehen

Schauen wir uns hier an der Karte, dem Endpunkt unserer Tour, noch einmal um: Links der 2009 eröffnete Neubaukomplex Gebäude E und F, geradeaus das zweifach erweiterte Gebäude C aus dem frühen 20. Jahrhundert. Ihm vorgelagert ist ein weiterer Neubau mit gelbem Backstein, der jedoch nicht zum Campus gehört. In dem Gebäude befindet sich eine Stephanus-Behindertenwerkstatt mit Café. Ein guter Ort, um alles Gehörte einmal setzen zu lassen, schließlich haben wir auf unserem Rundgang ein gutes Jahrhundert Industriegeschichte durchstreift. Die Neunutzung des KWO-Areals ist hier in Oberschöneweide keine Ausnahme. Traditionelle Fabrikhallen wie die Lampenfabrik Frister beherbergen heute Supermärkte und Billardsalons. Dass die Historie dennoch bewahrt wird, davon können Sie sich bei einem Abstecher zum Industriesalon Schöneweide überzeugen. Auf dem Gelände des ehemaligen Transformatorenwerks Oberspree wurden in liebevoller Sammelarbeit Zeugnisse der Industriegeschichte zusammengetragen. Der Industriesalon befindet sich in der Reinbeckstraße 9, ganz in der Nähe von hier. Nähere Informationen unter www.industriesalon.de. Wir hoffen, unser Rundgang war unterhaltsam und lehrreich und wünschen viel Spaß beim weiteren Erkunden.

(Ende)